Meine Stimmung ist etwa in Kellerhöhe. Uns wird mitgeteilt, dass der normale Therapieablauf für die nächsten drei Tage geändert wird. manche freut es. Mich nicht. Ich will weiter machen, sowohl in der Gruppe als auch mit dem täglichen Sport, der mir sehr gut tut. Statt dessen jedoch kommen einige Leute aus der ‘realen’ Welt zu uns. Es sind Suchtbeauftragte von Betrieben, Sparkassen, Behörden und was sonst noch alles. Sie wollen von uns lernen, inspiriert werden für ihren Alltag. Ja, da bin ich wirklich nicht scharf drauf und so kommt es, wie es kommen muss.

Sie trägt eine modische Kurzhaarfrisur und ist sehr attraktiv. Sie heißt Sybille und arbeitet in einem Betrieb als Suchtbeauftragte. Sie möchte gerne meine Meinung dazu wissen und ich sage ihr:

“Sind Sie schon einmal vor Nervosität und Saufdruck am frühen Morgen die Wände hochgegangen? Hätten Sie schon einmal alles getan, nur um einen winzigen Schluck Schnaps zu kriegen? Sie als ‘Normale’ werden das nicht nachempfinden können, und ich sage Ihnen und Ihren Kollegen, dass für solch eine Aufgabe nur ein ehemaliger Alkoholiker geeignet ist. Nur der ist einem Alkoholiker gewachsen. Jeder Säufer spielt spielt Ihnen doch etwas vor.”

Sybille brachte nur noch entsetzt  “Ja, und was sollen wir denn hier?”  hervor. Sie tat mir etwas leid, aber das war nun mal meine Meinung, und die basierte auf so einigen Erfahrungen. Na super, jedenfalls war aus der langweiligen Schnarchveranstaltung doch noch eine richtig geile Diskussion geworden. Das gefiel mir schon weitaus besser.

Der zweite Tag begann damit, dass sich jeder der ‘Normalos’ einen Patienten aussuchen sollte, mit dem er dann den Tag verbrachte. Es überraschte mich nicht, dass Sybille mich wählte, übrigens sehr zur Enttäuschung meiner Mitpatienten. So gingen wir lange spazieren und sie lud mich zum Essen ein. Wir waren länger als die andere ‘Paare’ unterwegs und wir setzten das am nächsten Tag noch lange fort.

Sybille, ich hoffe, Du hast Erfolg in deinem Beruf als Suchtbeauftragte. Du hast viel gefragt und ich habe viel geantwortet. Es hat uns beiden geholfen.

One thought on “Therapietagebuch – Jeder Säufer spielt spielt Ihnen etwas vor”
  1. Die Sache ist die: Du kannst einen Alkoholiker nicht retten. Entweder du gehst oder du bleibst, aber beides tut weh.

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