Rückblicke: Wann war der auslösende Moment?

Mittwoch, der 12.Juli, Day -2Die Sommerferien standen vor der Tür. Schon seit Tagen hatten Michi und ich kein anderes Thema mehr; die Schule war völlig nebensächlich. Die miese Note in Bio war mir sowas von egal, am Freitag würde es endlich soweit sein, die Freiheit begann und das bedeutete:weg von all dem hier.
Weg von der Schule, die nur noch nervte,
weg von den Eltern, die mich doch nicht verstanden, da sie ihr eigenes Alkoholproblem hatten.Zeit hatten sie ohnehin nie, was sollte ich also zu Hause. Meine Sachen hatte ich schon gepackt und auch das Zelt, das ich in meinem Zimmer aufgebaut hatte und darin übernachtete, hatte ich wieder zusammengefaltet.Zu diesem Zeitpunkt ahnten Michi und ich nicht, wie sehr uns die kommenden Wochen verändern, und wie sehr sie Einfluss auf unser weiteres Leben nehmen würden.

Wir hatten da ja einen Plan…
Donnerstag, Day -1
Aufregend, aufregend. Schon den ganzen Schultag über hatte ich nur den nächsten Tag im Sinn. Selbst für die süße Blonde Ulrike hatte ich keine Augen. Sie wusste, was wir planten. Während des Geschichtsunterrichts trank ich mit Jens zusammen Lambrusco. Oder war es Sangria? Egal, irgend einen billigen Fusel.

Zu Hause packte ich dann die letzten Sachen. Die Alten wollten noch einmal genau wissen, wie und wann wir fahren würden. Mit der Prinz Hamlet nach London, war meine Antwort. Dort würden wir meine Tante besuchen. Bis die Alten an diesem Tag besoffen waren, musste ich mir noch das ewige Gelaber über ‘Wie man sich benimmt’ anhören. Fängt das sich-benehmen nicht schon gegenüber den Kindern an? Abends schluckten Tom und ich noch ein paar Tabletten mit Bier. Bei ihm zu Hause war mal wieder Stress.

Abends telefonierten Michi und ich noch recht lange. Natürlich rief ich aus einer Zelle an, damit meine Alten nicht mithörten. Michi stellte die interessante Frage, warum ich Charlottes Briefe nicht beantwortet hatte. Klare Antwort meinerseits: weil ich sie nicht erhalten hatte. Wie so manche andere Sachen hatte meine treu sorgende Mutter die Briefe abgefangen. Viele Jahre später, nachdem sie gestorben war, fand ich immerhin einen davon. In dem wurde die Frage gestellt, warum ich mich nicht mehr melden würde. Der Brief stammte zwar nicht von Charlotte, aber ihren Briefen war es wohl genauso ergangen.
Freitag, Day 0
Es war Freitag, der 14.7.,

der letzte Tag vor den großen Schulferien. Meine Tutorin wies mich noch einmal darauf hin, dass meine Versetzung gefährdet sei. Sie war ja echt lieb und nett, aber so richtig beeindrucken konnte mich das alles nicht. Vielleicht sollte sie mal Schlüsse ziehen aus der Tatsache, dass mein Alter noch nie nüchtern zu Elternabenden und Besprechungen mit Lehrern (auch mit ihr) gekommen war. Meine Mutter ging niemals zu solchen Veranstaltungen. Ihre Hilfe beschränkte sich darauf, mit bei Hausaufgaben über die Schulter zu schauen und mit eine Ohrfeige zu verpassen, wenn ihrer Ansicht nach etwas nicht richtig gemacht wurde. Zum Glück war sie meist schon zu betrunken, um genau lesen zu können, was ich da schrieb. Ne, wirklich! So etwas würde ich mit meinen Kinder niemals machen, falls ich je welche hätte.

Endlich 12.00 Uhr! Helmuth wartete schon mit seinem klapprigen, alten Wagen und wir verstauten unsere Rücksäcke. Dann ging es los Richtung Süden zu einer Raststätte, von wo aus wir in die Freiheit trampen würden.

Es war ein geiles Gefühl! Wir saßen in einem Mini-Bus und fuhren Richtung Süden. Es waren, glaube ich, Jugoslawen, die uns mitnahmen. Hinter uns ging in einem riesigen Feuerball die Sonne unter. Hinter uns lagen die Schule, die Probleme, besoffene Eltern, die Perspektivlosigkeit, die Einsamkeit eines Hamster im Laufrad. Welch ein Glück für den Hamster, dass er seine traurige Situation nicht begriff. Aber ich war kein Hamster, ich begriff sehr wohl, dass ich da raus wollte. Aber wie?

Doch das war nun alles egal, alles war hinter mir, alles und ich war glücklich. Die Autobahn, die Freiheit! Weit weg!

Wir erreichten Brüssel und ohne Pause ging es per Tramp weiter nach Dover. Dort checkten wir ein und verbrachten die Nacht unbequem aber frei und glücklich in unseren Schlafsäcken auf dem Fußboden des Schiffes.
Tag 1 in Freiheit – London
Es war Samstag, der 15.7.

Was nun folgte, war ein Traum. Wir waren glücklich wie kleine Kinder am Weihnachtsabend. Die weißen Klippen von Dover, dann die Bahnfahrt nach London. Alles so aufregend und all diese neuen Dinge! Besonders herzlich war die Begrüßung meiner Kusine, die ich lange nicht gesehen hatte, eine Spielfreundin aus Zeiten, wo die Welt noch in Ordnung war.

Es war wie früher und wir genossen das Leben, den Wildpark von London mit all seinen Löwen und Elefanten und was alles noch. Abends ging es in den Pub und wir lernten Cider kennen – ein leckeres Getränk. Wenig Alkohol, aber darauf kam es mir nicht an, hier in diesem Leben war ich frei, hier brauchte ich mich nicht zu betäuben.
Tag 2 in Freiheit – die glücklichsten Tage unseres Lebens
Es war Sonntag, der 16.7

Wir spielten das erste Mal in unserem Leben Tennis, fuhren nach London rein und wieder raus, besuchten irgendeinen Badestrand und flirteten mit den Mädchen, was meiner Kusine überhaupt nicht gefiel. Die Welt war in Ordnung und wir meinten, es würde immer so bleiben.

Die Ferienzeit schien nie zu enden. Kein Wunder, waren wir doch erst am Anfang. Die Schule, der ganze Schulstress, diese Idioten von Strebern, die den Lehrern nach dem Mund redeten und mir den Unterricht vergällten. Dann die Lehrer selbst, manche stehengeblieben in verkrusteten Gedanken und Lehrmethoden. Fordernd, aber nicht in der Lage zu fördern. Wie die Eltern, deren ‘Du musst nur wollen!’ mir zum Hals raus hing, insbesondere nach dem x-ten Bier und der obligatorischen Flasche Korn, wenn mir lallend Vorhaltungen über das Leben und insbesondere über das meinige gemacht wurden.

Doch all das war weit, weit weg. Ich hoffte, all das nie wieder zu sehen.
Tag 3 in Freiheit – In den Norden, das Leben war schön
Es war Dienstag, der 18.7

Der Tag der Tage kam! Auf zum Loch Ness, das Seeungeheuer finden! Wir fühlten uns unbesiegbar, frei und so voller Abenteuerlust. Wir hatten am Vorabend noch eine Riesenflasche mit Cider (Apfelwein mit Kohlensäure) gekauft und die wollten wir noch leer machen. Klar, kein Problem, aber 2 Liter Cider hinterließen ihre Wirkung und irgendwann an der M1 nach Norden schlief ich ein. Meine Tante hatte uns vorher an eine Stelle dort gefahren, von wo aus wir gut weiter trampen konnten.

Meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als wir auf dem Rastplatz von Carlise waren und uns mit einem Spirituskocher 2 Dosen Bohnen warm machten. Das Leben war schön! Dann brachte David uns in seinem VW-Bus über Glasgow nach Sterling, direkt auf einen Campingplatz. Der war zwar schon geschlossen, aber – kein Problem. Am nächsten Morgen lagen Brötchen und Milch vor unserem Zelt.

Unvorstellbar, diese freundlichen Menschen! Wir fühlten uns einfach so richtig willkommen.
Tag 4 in Freiheit – im Norden
Es war Dienstag, der 18.7

Die Sonne schien und als sie langsam über die Berge kroch, hatten wir unser Zelt abgebaut, immer noch staunend über diese fantastische Landschaft, diese Freiheit und all die freundlichen Menschen hier. Eine herzliche Verabschiedung und ein lächerlich niedriger Preis für die Benutzung des Zeltplatzes, dann waren wir ‘on the road again’. Staunend über die gigantische Landschaft und eine irre Vorfreude auf das, was noch kommen würde. Immer weiter ging es, bis wir gegen Abend in einem Gebiet namens Cairngorms landeten. Es wurde dunkel und für ein Zimmer langte unser Geld nicht. So übernachteten wir an einem Fluss. Beim Blick auf die Karte änderten wir unsere Route. Loch Ness war noch weit, aber eine Landschaft – nicht weit entfernt – zog uns magisch an. Mit etwas Glück wären wir sogar am Nachmittag schon da. Und wir hatten Glück. Zwar mussten wir auch eine längere Strecke laufen, aber was machte das schon? Diese Freiheit, diese Landschaft, die Abenteuer, die Kameradschaft – alles Dinge, die so wunderbar waren und die ich so noch nie erlebt hatte.

Als wir am späten Nachmittag, als der Fluss, der uns begleitete in ein riesiges Reservoir überging. Die Sonne lachte und der Weg schien kein Ende zu nehmen. Noch viele Meilen vorher hatten wir übermütig in dem Fluss gebadet und versucht, Forellen mit der Hand zu fangen. Als ich aber eine hatte, ließ ich sie vor Schreck los. Dort, an den Stellen am Flussufer, wo Erde und Gras ein wenig überstanden, da hielten sich die Fische gerne auf. Greift man mit beiden Händen unter sie eine Böschung, dann kann man schon mal einen Fisch erwischen.

Nun aber taten unsere Füße weh und die Rucksäcke wurden immer schwerer. Irgendwann lagen wir schlapp am Straßenrand und mochten nicht mehr so richtig weiter. Ein Ehepaar, das in der Nähe Urlaub machte und spazieren ging, kam vorbei. Sie wiesen uns an, zu warten bis sie ihren Wagen geholt hatten und eine gute Stunde später hatten wir unser Ziel tatsächlich erreicht.
Nicht ganz im Norden, aber in der Freiheit

Der Aussteiger
Es war Mittwoch, der 19.7Das freundliche Ehepaar hatte uns ein gutes Stück entlang des Lochs – wie die Seen hier genannt wurden – gefahren. Dann wollten wir zu Fuß weiter, um eine gute Stelle zum Zelten zu finden. Dann folgte wieder so eine Begegnung, die ich nie vergessen würde.Am Straßenrand – oder besser Wegrand, denn es war eine enge Asphaltstraße, die sich um das Loch schlängelte – lag ein alter Mann im Gras. Neben ihm ein kleines Zelt und eine Moto Guzzi. Sein ganzes Leben – so erzählte er – hatte er nur Arbeit gekannt. Dann hatte er irgendwann die Nase voll von Schuften und Karriere und war einfach weg gefahren. Ausgestiegen. Wir gingen schwer beeindruckt weiter. So wie dieser alte Mann wollten wir auch eines Tages leben.Wir erwachten durch ein Geräusch, das wir noch nie gehört hatten. Unser Zelt stand neben einer Pinie, nicht weit vom Seeufer entfernt, aber weit genug, um sicher zu sein, falls dieser See hin und wieder über die Ufer treten würde. Neugierig verließen wir das Zelt, um dem Geräusch auf die Spur zu kommen. Forellen! Springende Forellen am frühen Morgen.
Die Welt war in Ordnung

Donnerstag, der 20.7. und viele folgende TageDas täglich benötigte Wasser konnten wir aus dem Loch nehmen. Frisches, klares Wasser. Um Vorräte einzukaufen, war jedes Mal eine fast 30 Kilometer lange Strecke zum nächsten Ort und zurück fällig.Es versteht sich von selbst, dass wir dann regelmäßig in einem der Pubs auftauchten und oft sehr spät wieder am Zelt waren. Es wundert mich noch Heute, wie wir es in unserem damaligem Zustand nach dem Kneipenbesuch jedes Mal schafften, alle Vorräte heil zum Zelt zu bringen.Nun fuhren auf dieser engen Straße hier selten Autos entlang, doch eines Tages, als wir wieder auf dem Heimweg waren, hielt ein Wagen neben uns. Ein Wagenfenster wurde herunter gekurbelt, eine Wolke von Whisky kam uns entgegen und einer der vier Insassen rief wütend: “Are you english?”.

Als wir die Frage verneinten, durften wir einsteigen und wurden bis zu unserem Zelt gefahren. Die folgenden Tage waren ein Traum, durchzogen von dem Gefühl unbegrenzter Freiheit, wie es wohl nur wenige Menschen im Leben erfahren. Die romantischen Abende, die wir vor unserem Lagerfeuer verbrachten, die “baked beans” und gegrillten Würstchen, das Geräusch der springenden Forellen am frühen Morgen, das alles hat uns für ein Leben lang geprägt. Tage voller Glück.
Die glücklichsten Tage meines Lebens I
Freitag 21.7. – Montag 14.08.

Wir lebten das Leben, von dem wir schon immer geträumt hatten. Hier würden wir bis ans Ende aller Tage bleiben wollen.

Ich lächelte oft, wenn ich in Pub No 1. oder No. 2 daran dachte, was meine Eltern wohl jetzt machen würden. Saufen, vermutlich und sich beschweren, dass ihr undankbarer Sohn sich nicht gehorsam bei ihnen meldete. Meinen Vater würde das nicht ganz so jucken, denn er war mir ähnlich. Ähnlicher als meine stock- konservative Mutter, deren Liebe zu ihrem Sohn in einer plumpen Machtdemonstration bestand. Erst viele Jahre später – nach ihrem Tod – erfuhr ich, dass sie schon immer eine verbitterte Einzelgängerin war. So trägt jeder sein Bündel in diesem Leben und gibt es weiter und weiter. Wir haben viele Dinge nicht anders gelernt, warum sollten wir sie also anders machen? Wir geben die Summe unserer Erfahrungen, die Ängste und Vorbehalte an die Kinder weiter und wissen nicht, was wir damit anrichten. Wir können es auch nicht wissen, wir haben es unsererseits von den eigenen Eltern gelernt. Der Kreis schließt sich.

Aber all das war nun in weiter Ferne, hier und jetzt gab es keine Grenzen, keine Kontrollen. Selbst der Alkohol floss nicht wirklich in Strömen, kein ‘Koma Saufen’, wie es heute bei vielen Jugendlichen Mode ist. Nein, wir tranken und waren lustig und wenn ‘Last Order’ vom Barkeeper gerufen wurde, tranken wir ein letztes Bier, in der Regel Guiness, und machten uns auf den Heimweg. 15 Kilometer Singen, Lachen, Tanzen. Arm in Arm und so manches Mal prügelten wir uns aus reinem Übermut. Verdreckt, müde und immer noch singend erreichten wir irgendwann das Zelt und schliefen schnell ein.
Die glücklichsten Tage meines Lebens II
Freitag 21.7. – Montag 14.08.

Morgens Lagerfeuer und Lagebesprechung, während neben uns das Loch in der Sonne glänzte. In der Tat hatten wir einen ungewöhnlich guten Sommer erwischt. In dem Pub No. 1 erfuhren wir, dass hier alle 7 Jahre der Sommer gut sei. Warum das so war, fragten wir nicht, denn es war schon so manches Mal schwer genug, einen angetrunkenen Schotten zu verstehen, zumal er sich eines lokalen Dialektes bemächtigte. Je später der Abend, desto mehr lokaler Dialekt. Pub No. 1 war unser Lieblingspub und wären wir nicht so oft eingeladen worden, hätte es nicht mal für ein mittleres Besäufnis gereicht. War am Mittwoch und Sonntag Pub No. 1 geschlossen, dann gingen wir in Pub No. 2. Es hatte sich längst herumgesprochen, dass die beiden ‘Tramps aus Germany’ wenig Geld hatten, aber Pfundskerle waren. Überhaupt waren Deutsche sehr beliebt hier.

So manches Mal stieß mich mein Freund an ‘Hey, pennst du schon?’, und tatsächlich war ich in Gedanken zu Hause. Nicht, weil ich es vermisste, nein, es war die Kneipe, die Kneipe oder besser gesagt: eine von den vielen Kneipen zu Hause.

‘Hol mal eine Flasche Korn und sechs Flaschen Bier!’ so lautete oft das, was am Wochenende geplant war. Für mich fiel eine Tafel Schokolade ab und somit war ich ein williger Co-Alkoholiker meiner Eltern. Das war die eine Variante. Eine weitere war, dass meine Mutter mich losschickte, meinen Vater zu suchen. Da gab es zunächst mal die Kneipe ‘Bei Bergler’ um die Ecke. Die günstige Lösung, denn der Heimweg wäre nicht so lang und beschwerlich. Wurde ich da nicht fündig, so befanden sich 3 weitere Kneipen kurz hintereinander, etwa einen knappen Kilometer entfernt. Und so saß ich dann und wartete, bis mein Vater sein Glas geleert hatte, bis er zu ende diskutiert hatte und bis es auf den wackeligen Heimweg ging.

Dann gab es die dritte Variante, die in der Regel darin bestand, dass ich schon im Bett lag und meine Mutter mich heraus rief: ‘Hilf mir mal, Papa hoch zu tragen!’ So lag er dann unten vor der Haustür, lallend und unfähig, sich auf den Beinen zu halten. Bis in den 3. Stock mussten wir ihn stützen, während er irgendwelche Dinge von sich gab, wie dankbar er sei und dass wir die Liebsten wären.

Doch diese gespenstischen Gedanken waren nur von kurzer Dauer, obwohl ich, wie mein Freund meinte, so manches Mal trübsinnig vor mich hin gestarrt hätte. Ehrlich, das war mir nie bewusst.

Merkwürdiger Weise kamen diese Gedanken öfter, je mehr sich die Reise ihrem Ende neigte.
Die glücklichsten Tage meines Lebens III
Freitag 21.7. – Montag 14.08.

Am Tage tollten wir oft am Seeufer oder durchstreiften die kleinen Waldgebiete. Wir sammelten Feuerholz und machten ein Lagerfeuer für das Mittagessen. Wir badeten im See und wünschten so sehr, dass all das ewig so weiterging.

Dann ging mein Photoapparat kaputt. Damals eine teure Sache und ein Neukauf war ausgeschlossen. So gingen wir die 15 Kilometer ins nächste Dorf und fragten in dem kleinen Lebensmittelladen, ob wir uns irgendwo einen Photoapparat leihen könnten. Nein, aber die Verkäuferin bat uns mitzukommen. Wir verließen den Laden und folgten ihr in ihre Wohnung. Dort gab sie mir einen recht teuren Photoapparat und auf meine Frage, ob ich meinen Ausweis bei ihr lassen solle, sagte sie nein. ‘We trust you’. So etwas hatte ich noch nie erlebt.

Wir übernachteten die nächsten Tage ‘Auswärts’, nachdem wir einen Mann mit seiner Großfamilie kennen gelernt hatten. Wir wurden eingeladen und wir kamen in das kleine Städtchen, wo sich unsere Pubs befanden. Wie selbstverständlich wurden wir eingegliedert, wir angelten mit ihnen und wir verbrachten die Tage am Strand mit ihnen. Besonders die Töchter hatten es uns angetan und wir saßen oft bis in die Nächte zusammen und redeten. Über Gott und die Welt. Da uns das Geld so langsam ausging, waren wir natürlich froh, solch unbeschwerte Tage mit solch netten (und auch hübschen) Menschen verbringen zu können. Mit dem Mann diskutierte ich fast eine ganze Nacht über Gott, beziehungsweise, dass es Gott meiner Ansicht nach nicht gab, da er so viel Leid und Elend zu ließ. Geduldig diskutierte der Mann mit mir und erst am nächsten Morgen erfuhr ich, dass er ein Bischof war. Als er am folgenden Sonntag die Predigt in der kleinen Kirche des Ortes gab, war ich zu seinem Erstaunen anwesend. Leider reisten er und seine Familie am nächsten Tag ab.

Wir waren ein Teil dieses Gebietes geworden, wir gehörten hierher und hier waren wir glücklich. Wir hatten so viele Leute kennen gelernt. Als mein Freund das erste Mal unsere nicht zu vermeidende bevorstehende Rückreise ansprach, hätte ich fast vor Wut den geliehenen Photoapparat zerschmettert.
Der Himmel so grau
Montag 14.8.72 – Donnerstag 17.8.72

Wir waren recht früh aufgestanden. So wie meine Stimmung war auch das Wetter. Dort, wo seit Wochen die Sonne schien, zogen graue Nebelfetzen über den Himmel, die uns von Zeit zu Zeit bespuckten.

Wir waren beide etwas lustlos, unwillig, dieses Paradies zu verlassen. Das einzige, was uns ein wenig bei Laune hielt, war die Tatsache, mal wieder zu trampen. Doch zunächst hatten wir nur Pech, es regnete und regnete und wer nimmt schon nasse Tramper mit? Spät am Abend saßen wir in einem Restaurant in Perth um wenigstens im Trocknen zu sitzen. Doch im nächsten Moment riss unsere Pechsträhne. 3 Jugendliche sprachen uns an, ob wir schon wüssten, wo wie übernachten würden.

Wir verbrachten die nächsten Tage in ihrem geräumigen Haus, das sie ‘Hacienda’ nannten und offensichtlich ihren Eltern gehörte. Da die aber aus irgend einem Grunde nicht anwesend waren, verbrachten wir die Tag mit Musik hören, reden, trinken und jede Menge Stoff zum Rauchen. Das ist wohl auch der Grund weshalb ich mich an nichts, aber auch an nichts erinnern kann, über was wir redeten und welche Musik wir hörten.

Aber der Stoff war geil.

Als wir es unseren neuen Freunden nach einigen Tagen endlich klar gemacht hatte, dass wir wieder zurück nach Deutschland mussten, fuhren sie uns noch ein ganzes Stück Richtung Süden, bevor wir für immer von ihnen Abschied nahmen.

Wir wären so gerne geblieben.
Die Trennung
Freitag 18.8.72

Die Krise hatte sich angebahnt. Keine Ahnung, was Michi noch so geraucht hatte. Er war total depressiv, niedergeschlagen und teils aggressiv. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass er manisch depressiv war. Möglich, dass das nahende Ende unser fantastischen Reise, einer Fahrt in die Freiheit mit all diesen tollen Menschen ihn psychisch gekillt hatte. Mir ging es genauso und wie es so ist, wenn zwei schlecht gelaunte Menschen zusammen sind – unsere Wege trennten sich in London.

Ich war nun richtig deprimiert und hätte wenigstens einer von uns seinen Stolz ein wenig runtergeschluckt… aber nein, diese tolle, einmalige Kameradschaft war in diesem Moment beendet. Es war zum Heulen. Wir waren Tag und Nacht in einer fantastischen Landschaft zusammen gewesen, hatten einander so manches Mal die Hand gereicht, wenn einer strauchelte, wären füreinander durchs Feuer gegangen… und nun das!

Ich ging zu meinen Verwandten um von dort aus meine Rückreise zu planen. So richtig willkommen war ich nicht, meine Kusine war in den Urlaub gefahren (ich würde sie nie wiedersehen) und der Rest der Familie war in Aufbruchstimmung für den eigenen Urlaub. Meine Tante sagte, dass meine Eltern bei ihr angerufen hätten, weil… aber das interessierte mich nicht. Ich würde es noch früh genug zu hören kriegen.

Mir war alles egal und hätte es auch nur die geringste Chance gegeben, umzukehren und alles noch einmal zu erleben, ich hätte alles dafür gegeben. Doch mein Geld langte nur noch für die Rückreise.
Die verhasse Rückkehr – wieder im Elternhaus
Sonntag 20.8. – Montag 21.8.

Auch wenn ich mich an so viele Details dieser einmaligen Reise Heute noch erinnere, an die Rückfahrt erinnere ich mich nicht mehr. Nur an ein Lied, ein trauriges Lied, das mir durch den Kopf ging, erinnere ich mich.

‘Sweet dreams and flying machines in pieces on the ground’, ging mir durch den Kopf.

Das Ende aller Träume. Immer wieder. Wo war die Freiheit geblieben? Warum musste ich dorthin wo ich nicht leben wollte? Und dann diese tolle Freundschaft. Einfach vorbei, alles vorbei.

Der Empfang zu Hause war frostig. Ich packte meine Sachen aus und genoss die Vorhaltungen. Schade, keiner fragte mich wie es war – ich hätte so viel Schönes erzählen können. Mein Freund, bzw. mein Ex-Freund Michi war schon vor 2 Tagen zu Hause eingetroffen, wie meine Eltern berichteten. Allerdings gab er keine Gründe an, warum ich noch unterwegs war.

Wenigstens hatte ich jetzt wieder Geld und noch am selben Abend besoff ich mich und schluckte einige Schlaftabletten. Der besseren Betäubung wegen.

In ein paar Tagen würde die Schule wieder beginnen. Es ging aufs Abi zu.

Von nun an stieg mein Alkoholkonsum.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *