Weg von der Schule, die nur noch nervte,
weg von den Eltern, die mich doch nicht verstanden, da sie ihr eigenes Alkoholproblem hatten.Zeit hatten sie ohnehin nie, was sollte ich also zu Hause. Meine Sachen hatte ich schon gepackt und auch das Zelt, das ich in meinem Zimmer aufgebaut hatte und darin übernachtete, hatte ich wieder zusammengefaltet.Zu diesem Zeitpunkt ahnten Michi und ich nicht, wie sehr uns die kommenden Wochen verändern, und wie sehr sie Einfluss auf unser weiteres Leben nehmen würden.
Wir hatten da ja einen Plan…
Donnerstag, Day -1
Aufregend, aufregend. Schon den ganzen Schultag über hatte ich nur den nächsten Tag im Sinn. Selbst für die süße Blonde Ulrike hatte ich keine Augen. Sie wusste, was wir planten. Während des Geschichtsunterrichts trank ich mit Jens zusammen Lambrusco. Oder war es Sangria? Egal, irgend einen billigen Fusel.
Zu Hause packte ich dann die letzten Sachen. Die Alten wollten noch einmal genau wissen, wie und wann wir fahren würden. Mit der Prinz Hamlet nach London, war meine Antwort. Dort würden wir meine Tante besuchen. Bis die Alten an diesem Tag besoffen waren, musste ich mir noch das ewige Gelaber über ‘Wie man sich benimmt’ anhören. Fängt das sich-benehmen nicht schon gegenüber den Kindern an? Abends schluckten Tom und ich noch ein paar Tabletten mit Bier. Bei ihm zu Hause war mal wieder Stress.
Abends telefonierten Michi und ich noch recht lange. Natürlich rief ich aus einer Zelle an, damit meine Alten nicht mithörten. Michi stellte die interessante Frage, warum ich Charlottes Briefe nicht beantwortet hatte. Klare Antwort meinerseits: weil ich sie nicht erhalten hatte. Wie so manche andere Sachen hatte meine treu sorgende Mutter die Briefe abgefangen. Viele Jahre später, nachdem sie gestorben war, fand ich immerhin einen davon. In dem wurde die Frage gestellt, warum ich mich nicht mehr melden würde. Der Brief stammte zwar nicht von Charlotte, aber ihren Briefen war es wohl genauso ergangen.
Freitag, Day 0
Es war Freitag, der 14.7.,
der letzte Tag vor den großen Schulferien. Meine Tutorin wies mich noch einmal darauf hin, dass meine Versetzung gefährdet sei. Sie war ja echt lieb und nett, aber so richtig beeindrucken konnte mich das alles nicht. Vielleicht sollte sie mal Schlüsse ziehen aus der Tatsache, dass mein Alter noch nie nüchtern zu Elternabenden und Besprechungen mit Lehrern (auch mit ihr) gekommen war. Meine Mutter ging niemals zu solchen Veranstaltungen. Ihre Hilfe beschränkte sich darauf, mit bei Hausaufgaben über die Schulter zu schauen und mit eine Ohrfeige zu verpassen, wenn ihrer Ansicht nach etwas nicht richtig gemacht wurde. Zum Glück war sie meist schon zu betrunken, um genau lesen zu können, was ich da schrieb. Ne, wirklich! So etwas würde ich mit meinen Kinder niemals machen, falls ich je welche hätte.
Endlich 12.00 Uhr! Helmuth wartete schon mit seinem klapprigen, alten Wagen und wir verstauten unsere Rücksäcke. Dann ging es los Richtung Süden zu einer Raststätte, von wo aus wir in die Freiheit trampen würden.
Es war ein geiles Gefühl! Wir saßen in einem Mini-Bus und fuhren Richtung Süden. Es waren, glaube ich, Jugoslawen, die uns mitnahmen. Hinter uns ging in einem riesigen Feuerball die Sonne unter. Hinter uns lagen die Schule, die Probleme, besoffene Eltern, die Perspektivlosigkeit, die Einsamkeit eines Hamster im Laufrad. Welch ein Glück für den Hamster, dass er seine traurige Situation nicht begriff. Aber ich war kein Hamster, ich begriff sehr wohl, dass ich da raus wollte. Aber wie?
Doch das war nun alles egal, alles war hinter mir, alles und ich war glücklich. Die Autobahn, die Freiheit! Weit weg!
Wir erreichten Brüssel und ohne Pause ging es per Tramp weiter nach Dover. Dort checkten wir ein und verbrachten die Nacht unbequem aber frei und glücklich in unseren Schlafsäcken auf dem Fußboden des Schiffes.
Tag 1 in Freiheit – London
Es war Samstag, der 15.7.
Was nun folgte, war ein Traum. Wir waren glücklich wie kleine Kinder am Weihnachtsabend. Die weißen Klippen von Dover, dann die Bahnfahrt nach London. Alles so aufregend und all diese neuen Dinge! Besonders herzlich war die Begrüßung meiner Kusine, die ich lange nicht gesehen hatte, eine Spielfreundin aus Zeiten, wo die Welt noch in Ordnung war.
Es war wie früher und wir genossen das Leben, den Wildpark von London mit all seinen Löwen und Elefanten und was alles noch. Abends ging es in den Pub und wir lernten Cider kennen – ein leckeres Getränk. Wenig Alkohol, aber darauf kam es mir nicht an, hier in diesem Leben war ich frei, hier brauchte ich mich nicht zu betäuben.
Tag 2 in Freiheit – die glücklichsten Tage unseres Lebens
Es war Sonntag, der 16.7
Wir spielten das erste Mal in unserem Leben Tennis, fuhren nach London rein und wieder raus, besuchten irgendeinen Badestrand und flirteten mit den Mädchen, was meiner Kusine überhaupt nicht gefiel. Die Welt war in Ordnung und wir meinten, es würde immer so bleiben.
Die Ferienzeit schien nie zu enden. Kein Wunder, waren wir doch erst am Anfang. Die Schule, der ganze Schulstress, diese Idioten von Strebern, die den Lehrern nach dem Mund redeten und mir den Unterricht vergällten. Dann die Lehrer selbst, manche stehengeblieben in verkrusteten Gedanken und Lehrmethoden. Fordernd, aber nicht in der Lage zu fördern. Wie die Eltern, deren ‘Du musst nur wollen!’ mir zum Hals raus hing, insbesondere nach dem x-ten Bier und der obligatorischen Flasche Korn, wenn mir lallend Vorhaltungen über das Leben und insbesondere über das meinige gemacht wurden.
Doch all das war weit, weit weg. Ich hoffte, all das nie wieder zu sehen.
Tag 3 in Freiheit – In den Norden, das Leben war schön
Es war Dienstag, der 18.7
Der Tag der Tage kam! Auf zum Loch Ness, das Seeungeheuer finden! Wir fühlten uns unbesiegbar, frei und so voller Abenteuerlust. Wir hatten am Vorabend noch eine Riesenflasche mit Cider (Apfelwein mit Kohlensäure) gekauft und die wollten wir noch leer machen. Klar, kein Problem, aber 2 Liter Cider hinterließen ihre Wirkung und irgendwann an der M1 nach Norden schlief ich ein. Meine Tante hatte uns vorher an eine Stelle dort gefahren, von wo aus wir gut weiter trampen konnten.
Meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als wir auf dem Rastplatz von Carlise waren und uns mit einem Spirituskocher 2 Dosen Bohnen warm machten. Das Leben war schön! Dann brachte David uns in seinem VW-Bus über Glasgow nach Sterling, direkt auf einen Campingplatz. Der war zwar schon geschlossen, aber – kein Problem. Am nächsten Morgen lagen Brötchen und Milch vor unserem Zelt.
Unvorstellbar, diese freundlichen Menschen! Wir fühlten uns einfach so richtig willkommen.
Tag 4 in Freiheit – im Norden
Es war Dienstag, der 18.7
Die Sonne schien und als sie langsam über die Berge kroch, hatten wir unser Zelt abgebaut, immer noch staunend über diese fantastische Landschaft, diese Freiheit und all die freundlichen Menschen hier. Eine herzliche Verabschiedung und ein lächerlich niedriger Preis für die Benutzung des Zeltplatzes, dann waren wir ‘on the road again’. Staunend über die gigantische Landschaft und eine irre Vorfreude auf das, was noch kommen würde. Immer weiter ging es, bis wir gegen Abend in einem Gebiet namens Cairngorms landeten. Es wurde dunkel und für ein Zimmer langte unser Geld nicht. So übernachteten wir an einem Fluss. Beim Blick auf die Karte änderten wir unsere Route. Loch Ness war noch weit, aber eine Landschaft – nicht weit entfernt – zog uns magisch an. Mit etwas Glück wären wir sogar am Nachmittag schon da. Und wir hatten Glück. Zwar mussten wir auch eine längere Strecke laufen, aber was machte das schon? Diese Freiheit, diese Landschaft, die Abenteuer, die Kameradschaft – alles Dinge, die so wunderbar waren und die ich so noch nie erlebt hatte.
Als wir am späten Nachmittag, als der Fluss, der uns begleitete in ein riesiges Reservoir überging. Die Sonne lachte und der Weg schien kein Ende zu nehmen. Noch viele Meilen vorher hatten wir übermütig in dem Fluss gebadet und versucht, Forellen mit der Hand zu fangen. Als ich aber eine hatte, ließ ich sie vor Schreck los. Dort, an den Stellen am Flussufer, wo Erde und Gras ein wenig überstanden, da hielten sich die Fische gerne auf. Greift man mit beiden Händen unter sie eine Böschung, dann kann man schon mal einen Fisch erwischen.
Nun aber taten unsere Füße weh und die Rucksäcke wurden immer schwerer. Irgendwann lagen wir schlapp am Straßenrand und mochten nicht mehr so richtig weiter. Ein Ehepaar, das in der Nähe Urlaub machte und spazieren ging, kam vorbei. Sie wiesen uns an, zu warten bis sie ihren Wagen geholt hatten und eine gute Stunde später hatten wir unser Ziel tatsächlich erreicht.
Nicht ganz im Norden, aber in der Freiheit
Es war Mittwoch, der 19.7Das freundliche Ehepaar hatte uns ein gutes Stück entlang des Lochs – wie die Seen hier genannt wurden – gefahren. Dann wollten wir zu Fuß weiter, um eine gute Stelle zum Zelten zu finden. Dann folgte wieder so eine Begegnung, die ich nie vergessen würde.Am Straßenrand – oder besser Wegrand, denn es war eine enge Asphaltstraße, die sich um das Loch schlängelte – lag ein alter Mann im Gras. Neben ihm ein kleines Zelt und eine Moto Guzzi. Sein ganzes Leben – so erzählte er – hatte er nur Arbeit gekannt. Dann hatte er irgendwann die Nase voll von Schuften und Karriere und war einfach weg gefahren. Ausgestiegen. Wir gingen schwer beeindruckt weiter. So wie dieser alte Mann wollten wir auch eines Tages leben.Wir erwachten durch ein Geräusch, das wir noch nie gehört hatten. Unser Zelt stand neben einer Pinie, nicht weit vom Seeufer entfernt, aber weit genug, um sicher zu sein, falls dieser See hin und wieder über die Ufer treten würde. Neugierig verließen wir das Zelt, um dem Geräusch auf die Spur zu kommen. Forellen! Springende Forellen am frühen Morgen.
Die Welt war in Ordnung