Unser Therapeut geht in den Urlaub. Große Aufregung in der Teeküche, in der wir oft beieinander sitzen und diskutieren oder einfach nur abhängen. Unser Therapeut ist recht beliebt bei den Mitpatienten durch seine ruhige Art. Dr. W., der seine Vertretung übernehmen wird, dagegen nicht. Er gilt als ‘scharfer Hund’.
Mir ist das relativ egal, wer Therapeut ist. Insgeheim bin ich gespannt auf den scharfen Hund, denn Harmonie ist meiner Ansicht nach Gift für eine Gruppensitzung. Nur wenn Konflikte so richtig hoch kommen, wird es interessant. Allerdings rechnete ich nicht damit, dass ich mal so richtig von diesem Therapeuten ran genommen werden würde und zwar auf unerwartete Art und Weise.
Für das nächste Wochenende hatte ich mir Kiel als Ausflugsort ausgesucht. Wie es sich gehörte, stellte ich in der nächsten Gruppensitzung einen Antrag beim zuständigen Therapeuten, in diesem Fall Dr. W.
“Warum wollen Sie denn nach Kiel?” fragte er mit einem süffisanten Lächeln.
“Nun”, meinte ich, “spazieren gehen, Schiffe angucken und so. Vielleicht irgendwo essen gehen.”
“Aha”, entgegnete er. “Allerdings verstehe ich nicht, warum Sie dort hin wollen.”
Ich versuchte es erneut und erklärte ihm, dass ich mal etwas Anderes sehen wollte und der Kieler Hafen wäre ja interessant…”
“Ich verstehe noch immer nicht, warum Sie nach Kiel wollen!” war seine lapidare Antwort und allmählich wurde ich unsicher, ob ich überhaupt noch dort hin wollte. Meine Mitpatienten begannen langsam zu murren, sie verstanden das Spiel des Therapeuten nicht.
So ging es dann über 2 Gruppensitzungen, die jeweils 45 Minuten dauerte und ich versuchte immer wieder zu erklären, warum ich nach Kiel wollte, interessante Stadt, etwas Einkaufen…
“Ich verstehe noch immer nicht, warum Sie nach Kiel wollen!”
Nur noch wenige Minuten, dachte ich und du hast das hier überstanden. Ich überlegte – worauf wollte der Kerl hinaus?
Dann rief ich: “Weil ich es will!”
Der Therapeut rückte seine Brille zurecht und lächelte: “Nun habe ich verstanden, warum Sie nach Kiel wollen!” Dann unterzeichnete er den Antrag.
“So ein Quatsch!” schimpften meine Mitpatienten, als wir uns zu einem Kaffee in die Küche zurückzogen. “Was wollte der Typ überhaupt? Das kapiert doch keiner!”
“Aber ich habe es kapiert”, meinte ich nachdenklich. “Wir müssen lernen zu sagen, was wir wollen. Jahrelang haben wir rumgedruckst, statt Klartext zu reden. Im Klartext heißt zu sagen: ‘ich will!’ oder auch: ‘ich will nicht!'”
Ich hatte verdammt viel gelernt in diesen 2 Gruppenstunden. Es kam mir für mein weiteres Leben zugute.
Wie wahr, wie wahr…